Hintergrundinformation zur "Ruine"

Skizzen zur Ruine


Berlin, Winterfeldplatz, 1976-77. An Nachmittagen ging ich gerne in die "Ruine". Der Pulverdampf der vergangenen Nächte war noch nicht ganz abgezogen und verbreitete ein mildes Licht im Raum. Ich saß dann da, mit meinem halben Kunststudium und halben Mathematikstudium und meiner aussichtslosen Verehrung der alten Meister, und zeichnete in ein Skizzenbüchlein die anwesenden Gäste.
Antonio del Costa den Musiker, der aus dem Wrack einer mexikanischen Showband in Berlin gestrandet war. Seine Augen und Zähne blitzten mit den Ringen an seinen Händen um die Wette. Papa Gianni, zum zweiten Mal mit seiner Pizzeria Pleite gegangen. Wolfgang, der souveräne Schriftsteller ohne Verlag. Helmut, immer reizbar, hochexplosiv, wieder einmal aus dem Knast entlassen, auf seinem Nacken die Tätowierung: "Mein Kopf gehört dem Henker". Das Gaunerpaar Achim und der rothaarige Wolfgang. Achim mit seinem kleinen Hund Olli hatte immer ein Maschinenöl Fläschchen in der Tasche um jemandem beim Kickern ein paar Mark abzugewinnen. Der rothaarige Wolfgang schwäbisch, stark, träumte von einer Karriere als Zuhälter. Thomasius, der neblige Ostfriese. Kläuschen, der drogensüchtige Coiffeur. Von ihm konnte man sich im Hinterzimmer für ein paar Mark die Haare schneiden lassen. Madagaskar Sigi, pensionierter Fremdenlegionär. Hinterm Tresen Jo, mit langen blonden Haaren und großen Augen, immer Herr der Lage. Ich konnte gar nicht alle auf ein Bild bringen. Und alles schwebte in einer melancholischen Harmonie, die über die Zeit hinausragte in Sphären wo Himmel und Hölle nicht getrennt sind, und die Engel unter den Teufeln weilen.
So sah ich das.

Und andere?

Kneipenlog

Fotoalbum Ruineros von Rolf Dietrich

"Gegenüber befand sich versteckt die Kneipe "Ruine", wo per se dem Alkoholkonsum gefrönt wurde. Im "Dschungel" dagegen hatte man immer das beruhigende Gefühl, auf der richtigen Seite zu sein. Hier war man kein bloßer Alki, sondern etwas Besonderes, ein mit Kunst umhauchtes Wesen, jemand der eine persönliche Botschaft mitbrachte."
Aus Dschungel Berlin

„Wem nur der Blackout übrig blieb, der konnte in ein gegenüberliegendes, wie die Gedächtniskirche halb weggeschossenes Rumpfhaus wechseln. Auch hier war etwas erfunden worden: das ironmännliche Kampftrinken. Im Erdgeschoss der Kriegsruine befand sich die untenrum etwas glitschige Lokalität Ruine, in der die Nacht gegen sechs Uhr früh ihren Höhepunkt erreichte. Ein Fight-Club, nur für austrainierte Nachtschwärmer, die in euphorischen Brüllchören Rocksongs herausschrien, die allesamt den Rhythmus der Lieder klopften oder mit den Füßen stampften und mit Biergläsern und Aschenbechern auf die überschwemmten Holztische hieben – die musikalischste unter allen Ruinen, ein besoffenes Grand Guignol, König Ubu und die Vorboten des Punk.“
Aus „Berlin 1977“ von Bernd Cailloux in der Ausgabe 276 des Rolling Stone, Oktober 2017

„Keine schicksalhafte Verwicklung mit denen, denen ich diene! Zwischen denen „vor der Theke" und denen „hinter der Theke" besteht die Glaswand, unüberwindlich. Nur so überlebe ich. Das verlockende Angebot, vor Ort einen „Freund", einen „Bruder" zu finden, könnte im nächsten Moment das Todesurteil bedeuten, so rasant dreht sich das Beziehungskarussell um die Quelle, um die Theke herum.“
Aus dem Buch „Ruine" von Hans-J. Schmejkal, Derneburg 2017, ISBN 978-3-7418-4084-5

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